Mein Name ist Lilo F. und ich möchte Euch gerne die Geschichte von meinem Unfall erzählen, der mein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt hat.
Es war an einem ganz normalen Tag im Jahr 1986. Ich war damals 21 und liebte Extremsportarten. Biketouren, Bergsteigen, Freeriden, Gleitschirmfliegen, nichts war mir zu gefährlich. Doch damit nicht genug, daneben war mein Leben von extremen Diäten und einer extremen Arbeitsmoral geprägt. Die Wörter «Angst» oder «Mass» existierten für mich schlicht nicht. Das sollte sich an diesem bewölkten Herbsttag jedoch schlagartig ändern. Am späteren Nachmittag dieses schicksalhaften Tages traf ich mich mit meiner Mutter, um in einem Spezialitäten-Laden einzukaufen. Danach wollten wir mit dem Einkauf zu ihr nach Hause fahren und einen gemütlichen Abend miteinander verbringen. So machten wir uns nach dem Einkauf in Horw auf den Weg Richtung Kriens, wo meine Mutter zuhause war. Die Atmosphäre im Auto war entspannt, wir hörten Radio und unterhielten uns angeregt.
Der Schock
Beim Eichwald-Übergang wurden wir von der sich senkenden Barriere ausgebremst. Meine Mutter drosselte das Tempo und unser Auto kam gleich vor der Absperrung zum stehen. Wir stellten uns auf eine kurze Wartezeit ein und ich begann, meiner Mutter von meinen Wochenendaktivitäten zu erzählen. In der nächsten Sekunde gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Wir schrien aus Leibeskräften. Unser Auto wurde gegen die Abschrankung gedrückt, die dieser Belastung nicht standhielt und im Bruchteil einer Sekunde in mehrere Teile zerbrach. Unmittelbar vor dem Bahngleis kamen wir zum stehen. Doch damit war der Albtraum noch nicht vorbei. Denn in genau diesem Moment nahm ich im Augenwinkel etwas wahr. Im nächsten Augenblick donnerte der Zug mit voller Wucht an uns vorbei. Er verpasste die Front unseres Autos dabei nur um Zentimeter.
Meine Mutter und ich waren starr vor Schreck. Aus den Autos um uns herum und von der Strasse her strömten Menschen zu uns hin. Sie riefen und gestikulierten, doch wir nahmen alles nur wie in einem Nebel war. Mit pochendem Herzen und in kaltem Angstschweiss sassen wir in unserem Auto und brachten kein Wort heraus. Was war genau geschehen? Wir waren total desorientiert. Menschen klopften an unser Fenster und wollten wissen, ob es uns gut geht. Langsam begann sich der Nebel etwas zu lichten und wir nahmen die Realität um uns herum wieder wahr. Aus der Ferne hörten wir Sirenen – der Polizeiwagen musste ganz in der Nähe gewesen sein. Wir stiegen mit zitternden Knien aus dem Auto aus, wobei uns unsere Helfer*innen stützen mussten. Von den kurz darauf eintreffenden Sanitätern wurden wir dann erst einmal gründlich durchgecheckt. Die gemeinsame Diagnose: Schock und Schleudertrauma. Mit Tränen in den Augen sah ich zu meiner Mutter hin, die ebenfalls vor sich hin weinte. Erst langsam wurde uns beiden bewusst, was für ein Glück wir gehabt hatten. Doch was war denn nun tatsächlich geschehen? Ein grosser Lastwagen direkt hinter uns hatte aus fraglichen Gründen nicht gebremst und uns schliesslich von hinten gerammt.
Die Veränderungen
Das Nicht-Bremsen des Lastwagenfahrers bremste paradoxerweise mich komplett aus: Kopfschmerzen, Nackenverspannungen, Konzentrationsstörungen, Ängste: Das waren die Symptome, die mich von nun an ständig begleiteten. Ich hatte keine Energie und auch keinen Mut mehr für die extremen Sportarten, die ich vorher ausgeübt hatte. Ich versuchte es mit Physiotherapie, was mir aber leider gar nicht half. Erst als ich einen Therapeuten fand, der gleichzeitig noch Farbakupunktur anwandte, wurden meine Symptome etwas besser. Dies geschah jedoch rein auf der körperlichen Ebene, meine tiefliegenden Ängste wurden dadurch nicht gelöst.
Ich fuhr noch ein paar wenige Male selbst mit dem Auto – doch die Angst fuhr immer mit. Ich bekam Beklemmungen, wenn ich auf die Autobahn oder in einen Tunnel fahren musste. Mit der Zeit erfand ich immer mehr Ausreden, weshalb ich ja gleich ganz auf ein Auto verzichten könnte. Doch damit nicht genug. Ich musste mich auch überwinden, in einen Bus oder einen Fahrstuhl zu steigen
und sogar Rolltreppenfahren machte mir Mühe. Ich kam mir vor wie ein Kind, das laufen lernt. Ich war oft wütend auf den Lastwagenfahrer, aber auch auf mich selbst, weil ich gar nicht verstand, warum diese Ängste auftauchten. Es schien für mich keine Logik zu haben. Heute ist mir bewusst, dass ich unter anderem Mühe mit «Fahrzeugen» hatte, bei denen ich die Kontrolle abgeben musste und wobei ich wohl nach meinem Unterbewusstsein in eine ähnliche Situation hätte gelangen können, wie beim Unfall.
Die Erkenntnis
Durch den Unfall musste oder durfte ich mein Leben total umstellen, was nicht einfach war. Irgendwann kam jedoch der Tag, an dem mir bewusst wurde, was für ein Glück es ist, dass ich überhaupt noch lebe. Mein Handlungsradius wurde mit der Zeit wieder etwas grösser, meine Symptome ein bisschen schwächer. Ich erkannte, auf welcher Spur ich vor dem Unfall gewesen war: Schneller, höher, weiter, extremer! Wahrscheinlich hatte ich die Bremse zu diesem Zeitpunkt nötig, wer weiss, wohin mich dieses Verhalten sonst noch geführt hätte. Denn heute sehe ich durchaus auch die Aspekte einer Sucht in meinem Leben vor dem Unfall. Dieses Verhalten war auch an meine Beziehung mit meinem damaligen Freund, der Ski- und Surflehrer war, gekoppelt. Natürlich fand ich die Aktivitäten auch selbst toll, aber darüber hinaus bildeten sie das Fundament unserer Beziehung. Dies bestätigte sich nach dem Unfall, denn nachdem ich die Sportarten nicht mehr ausüben wollte oder konnte, drifteten wir als Paar immer weiter auseinander, bis die Beziehung schliesslich zerbrach.
Auch wenn ich mit der Zeit auch die positiven Seiten des Unfalls sehen konnte, heisst das nicht, dass ich zu jedem Zeitpunkt in Frieden damit war, was passiert war. Manchmal sass ich gefühlsmässig in einem tiefen Loch, weil ich die Dinge, die mir vorher so wichtig gewesen waren, nicht mehr ausleben konnte. Meine Einstellung schwankte zwischen «es ist ein Geschenk und eine Chance, mein Leben anders zu gestalten» und «das kann doch nicht sein, ich bin noch jung und jetzt soll ich all diese Dinge nicht mehr tun können?». Doch irgendwann gelangte ich an den Punkt, an dem ich die Gegebenheiten einfach akzeptierte, weil ich wusste, dass es nichts bringt, weiter dagegen anzukämpfen. Meine Ängste sah ich ab diesem Zeitpunkt als Vorsichts-Tafeln an.
Aus heutiger Sicht hätte ich bei einigen Themen vielleicht hartnäckiger bleiben sollen. So bereue ich manchmal, dass ich nicht mehr Auto fahre. Doch zum Glück kann ich auch heute noch etwas ändern und ich habe mich für eine Coachingstunde angemeldet, um mir wenigstens einen Teil meines alten Lebens zurückzuerobern. Vielleicht nehme ich auch mal wieder eine Fahrstunde oder wage mich in der Nacht mit meinem Partner auf die Strasse. Aufgeben werde ich jedenfalls nie.
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